Nachtwelt

Nachdem Mimi aus einem ganz wunderbaren Traum erwacht, kann sie nur schwer in ihren Alltag zurückkehren. Irgendetwas hat sich verändert. Plötzlich fürchtet sie sich vor den Menschen, die ihr sonst so vertraut waren.

 

Dann reist Mimi durch die Nacht in eine fantastische Welt, in der Träume wahr werden können und sie die Liebe findet. Doch diese Welt ist in Gefahr und droht in der Dunkelheit zu versinken.

 




Die Taschenbuchausgabe umfasst 168 Seiten
Das ebook hat eine Dateigröße von 283 KB

Leseprobe: Kapitel 1

5:30 Uhr und schlechte Laune

Sie war eine gute Schläferin. Sie legte sich ins Bett, las noch ein paar Seiten und versank dann in einen traumlosen Schlaf. Nach dem Aufstehen brauchte sie eine Stunde, um ihre allmorgendliche schlechte Laune abzulegen. Danach war sie fit für den Tag.

 

Aber an diesem Morgen, als der Wecker wie immer um fünf Uhr dreißig klingelte, war Mimi nicht nur ausgesprochen übellaunig, sondern auch total müde und kaputt. Seit Wochen hatte sie schlimme Nächte mit verwirrenden Träumen, die beim ersten Schlag auf den klingelnden Wecker vergessen waren.

Sie schlief unruhig und schien in der Nacht gegen Dämonen zu kämpfen. Heute hingen ihr die zerzausten Haare quer übers Gesicht und eines der zwei Kopfkissen lag neben dem Bett. Mimis Pyjamajacke war eng um ihren Körper gewickelt. Während sie versuchte sich von der Jacke zu befreien, stellte sie fest, dass zwei Knöpfe abgerissen waren.

Im Bad beim Blick in den Spiegel, starrte sie auf ihre Augenringe. Dunkle Schatten mit einem Stich ins Violette. An diesem Morgen verlor sie beim Bürsten viele Haare, da ihr die Geduld fehlte, diese vorsichtig zu entknoten. Je mehr es weh tat, desto wütender riss sie an der Bürste.

 

Die Kaffeemaschine lief und der Toast sonnte sich zwischen den glühenden Gitterstäben.

Nach dem Frühstück nahm sich Mimi einen Becher Kaffee und eine Zigarette mit in den Garten. Sie rauchte selten, aber nach so einer Nacht und schmerzender Kopfhaut hatte eine Zigarette etwas Tröstliches.

Draußen merkte sie es sofort. Über Nacht war der Frühling gekommen. Die Luft war mild und ihre Strickjacke reichte aus, um nicht zu frieren. Es roch wunderbar nach neuem Leben. In der letzten Nacht schienen die Narzissen und Tulpen mehrere Zentimeter aus der Erde geschossen zu sein. Nicht mehr lange und sie würden anfangen zu blühen.

Es dauerte nur einen Moment, bis Mimi ihren kleinen Garten durchquert hatte. Mit Kaffeepott und Zigarette saß sie auf der uralten Steinbank, die in einer Nische zwischen den Hecken stand. Während des Winters hatten sich auf dem Stein Moos und Flechten festgesetzt.

Für Mimi war die Bank der Ort, der absoluten Ruhe. Mit den eingemeißelten Blättern, Blüten und fratzenhaften Dämonenköpfen schien die Bank aus einer magischen Welt zu kommen. Hier zu sitzen besänftigte sie. Müdigkeit und schlechte Laune waren vergessen.

 

Mimi stellte ihren Kaffeebecher in die Spüle, schmierte noch ein paar Brote und stopfte die Tupperdose zusammen mit der Thermoskanne in ihren Rucksack. Während sie ihre Haustür zuzog beschloss sie, dass heute der Tag des Frühjahrsputzes gekommen war.

Viel Zeit würde dieser nicht in Anspruch nehmen. Die Größe ihres Hauses war der Größe des Gartens angepasst – klein. Die Grundfläche betrug ungefähr siebzig Quadratmeter. Ursprünglich diente das Häuschen als Remise und gehörte zu dem stattlichen Herrenhaus, in dem Mimis Vermieter wohnten. Die Remise war in den achtziger Jahren zum Gästehaus umgebaut worden und seit zwei Jahren war Mimi stolze Mieterin dieser kleinen Puppenstube.

Ein rotes Backsteinhaus mit Sprossenfenstern und alten Fensterläden, in die Blumenornamente geschnitzt waren. Efeu und wilder Wein hatten sich die Vorderseite des Hauses zu Eigen gemacht.

Das Allerschönste an Mimis Haus war eine der Giebelseiten. Diese war bis in die Spitze des Daches verglast. Hinter dem riesigen Fenster lag Mimis Wohnzimmer und in der Etage darüber ihr Schlafzimmer. Vom Sofa und dem Bett aus hatte man einen herrlichen Blick in den kleinen, verwunschenen Garten. Haus und Garten lagen auf dem parkähnlichen Gelände des Herrenhauses, versteckt hinter hohen Bäumen und Büschen.

 

Mimi schulterte ihren Rucksack. Damit sie schneller durch den Park kam, nahm sie das Fahrrad. Am Haupttor hatte sie ihren Wagen geparkt. Sie radelte über die schmalen Sandwege, die sich durch das leicht hügelige Gelände zogen. Wie eine grüne Decke lag die Rasenfläche zu beiden Seiten des Weges. Manchmal wurde die Fläche von runden Beeten durchbrochen, deren Durchmesser zehn bis zwanzig Meter betrug. Wie kleine Inseln schwammen sie in dem endlosen Grün. Im Sommer gab es ein Beet mit Wildblumen und eines mit Rosen und Lavendel.

Außerdem gab es im Park ein Labyrinth aus drei Meter hohen Lebensbäumen, in dessen Mitte ein Pavillon stand. Mimi stellte sich vor, wie dort junge Frauen in altertümlichen Kleidern darauf warteten, dass ihr Liebster den Weg zu ihnen fand und sie verbotenerweise küsste.

 

Am besten gefiel Mimi das große Beet am Rande des Parks. Es wurde nicht mehr gepflegt und dort schien die Zeit still zu stehen. Die Bäume waren uralt und so groß, dass man den Kopf weit in den Nacken legen musste, um bis zu ihren Kronen zu sehen. Moos und Flechten überzogen die Stämme.

Farne bedeckten den Boden und auf einem vor Jahren umgestürzten Baum wuchsen große, orangefarbene Pilze. Die Wildheit und die Kraft dieser Bäume faszinierte Mimi. Seit Jahrzehnten trotzten sie den Stürmen und der Kälte des Norddeutschen Winters.

 

Der Sandweg bog nun zum kleinen See des Parks ab. Die Uferseiten waren durch eine Brücke verbunden.

Die dicken Eichenbohlen ließen keinen Zweifel daran, dass die Brücke auch in hundert Jahren noch gefahrlos überquert werden konnte. Das Brückengeländer war weiß gestrichen und die Handläufe waren in einem leichten, nach außen gewölbten Bogen bis auf die Erde vor der Brücke gezogen. Aus den Enden des Geländers waren die Schwänze zweier liegender Drachen geschnitzt. Diese flankierten den Übergang der Brücke. Die Drachen hatten ihre Köpfe erhoben und ihre Flügel waren leicht vom Körper abgespreizt. Die Schnitzerei war so lebendig, dass man glauben konnte die Drachenaugen würden jeder Bewegung folgen. Obwohl Mimi fast täglich hier vorbeifuhr, hatte sie sich noch nicht an diesem fantastischen Anblick satt gesehen.

 

Alles im Park schrie nach Frühling. Noch war der Boden nass und die Bäume waren unbelaubt, aber ein paar Tage Sonne würden dies schnell ändern. Auf der Rasenfläche waren schon ganz deutlich tausende, kleine grüne Krokusspitzen zu erkennen. Bald würde Mimi durch ein wogendes Meer aus lila Blüten fahren.

 

Hinter dem Haupttor schob sie ihr Fahrrad. Sie war nicht fit genug, um durch den hohen Kies der Auffahrt zu radeln. Außerdem liebte sie das knirschende Geräusch der Kiesel, während sie über die Steine lief.

Gärtner, Haushälterin und Köchin des Herrenhauses traten gerade ihren Dienst an. Während die drei von ihren Autos zum Haus hinüber gingen, winkten sie gut gelaunt. „Moin Mimi!“

„Moin, ihr drei! Ich wünsch euch einen schönen Arbeitstag.“

 

Schon saß Mimi in ihrem Wagen und war auf dem Weg zur Arbeit. Zwanzig Minuten Fahrt und sie würde ihre Schicht in der Gärtnerei beginnen. Dort arbeitete sie dreißig Stunden die Woche. Leider reichte das Gehalt nicht für ihren Lebensunterhalt, sodass sie an zwei Abenden in der Woche auf einer Tankstelle aushalf.

 

Als sie ihren Arbeitsplatz erreichte, war der Mitarbeiterparkplatz bereits gut gefüllt. Mimi ging zum Büro, um ihren heutigen Arbeitszettel abzuholen. Dicht gedrängt stand ein Teil der Kollegen in dem kleinen Raum.

„Moin.“

„Moin Mimi.“ Eine ihrer Kolleginnen drückte sie an ihre Brust. „Na? Wieder schlecht geschlafen? Deine Augenringe werden immer dunkler.“

„Ja, ich weiß.“

Grinsend sagte der Gärtnermeister zu den Frauen: „Mimi hat bestimmt von mir geträumt. Ich schaff es immer, die Mädels wach zu halten.“

Er hob die Hand und einer der Fahrer der Gärtnerei klatschte ab und sagte: „Genau, Ole. Du bist der wahr gewordene Traum aller Frauen.“

 

Mimi arbeitete heute im Gewächshaus 3. Tausende von Primeln warteten auf sie. Beim Öffnen der Tür waren die Farben und der Duft fast zuviel für Augen und Nase. Heute würde sie nichts anderes tun, als die Primeln auszuputzen. Verwelkte Blüten abkneifen und dann die Töpfe auf zwölfer Paletten stapeln.

Das Frühlingsgeschäft lief seit ein paar Wochen auf Hochtouren. Baumärkte, Blumenläden und Supermärkte warteten auf ihre bestellten Stiefmütterchen, Primeln, Tulpen und Narzissen. Nach dem langen Winter waren die Menschen total verrückt nach den Frühjahrsblühern.

Erst seit eineinhalb Wochen gab es keine Nachtfröste mehr. Es gab keine Garantie, dass das Wetter nicht noch einmal umschlagen würde. Den Leuten war dies egal. Sie bepflanzten vor ihren Haustüren, auf Balkonen und Terrassen Schalen und Kübel.

Mimi überlegte, wo wohl ihre gestapelten Primeln landeten, wenn sie heute Abend mit dem voll bepackten LKW auf ihre Reise gingen.

 

In der Gärtnerei zu arbeiten gehörte zu den besten Dingen in Mimis Leben. Ihr gefiel die körperliche Arbeit und, dass sie die meiste Zeit dreckige Hände hatte. Die Arbeit war abwechslungsreich, da sie an die Jahreszeiten gebunden war. Mit den Arbeitskollegen war es super - sie waren wie eine große Familie.

Fast die gesamte Familie traf sich jetzt zum Essen. Es war zwölf Uhr. Eine dreiviertel Stunde Mittag, die immer (leider ohne die Kollegen aus dem Verkauf) gemeinsam gemacht wurde. Gegessen wurde in einem der kleineren, kaum noch genutzten Gewächshäuser. Dort stand ein riesiger quadratischer Holztisch. An jeder seiner Seiten hatten sechs Leute Platz. Heute kamen nach und nach zwanzig Kollegen ins Gewächshaus. Gelernte Gärtner, Auszubildende, Fahrer, Aushilfs- und Teilzeitkräfte. Jeder platzierte seine Thermoskanne oder Getränkeflasche auf dem Tisch. Tupperdosen in den unterschiedlichsten Farben waren dazu wild verstreut. Der Tisch war so bunt wie das Primelmeer, in dem Mimi noch vor einigen Minuten gestanden hatte.

„Mahlzeit.“

Alle erwiderten Mimis Gruß und wünschten ihr einen guten Appetit. In der einen Hand ein Salamibrot, in der anderen ein Stück Salatgurke hörte sie dem wilden Gequatsche der Kollegen zu. Es ging um Benzinpreise und Urlaubsziele. Meistens aber sprachen sie über Geld und die Kinder. Mimi und ihre Kollegin, mit der sie den Vormittag Primeln gepackt hatte, konzentrierten sich auf das Gespräch der Auszubildenden. Die waren zu fünft und aus verschiedenen Lehrjahren. Die Jüngste war gerade siebzehn, die Älteste Anfang zwanzig.

„… den fand ich sooo süß und meine Freundin hat dann gesagt, ich soll mal zu ihm gehen und ihn anquatschen. Hab ich auch gemacht. Bin einfach auf ihn zumarschiert und hab ihn gefragt, wie er heißt. Ich heiß, wie immer du willst hat er geantwortet. Süß, oder?! Wir haben den ganzen Abend miteinander gequatscht und getanzt. Für den nächsten Tag haben wir uns zum Strandspaziergang verabredet. Da hat er das erste Mal meine Hand genommen.“

„Wie romantisch“, sagte das zweite Lehrjahr. „Hat er was Schönes zu dir gesagt?“

„Er hat gesagt, mit mir würde die Sonne heller scheinen und vielleicht wäre das mit uns was für die Ewigkeit.“

Die fünf guckten ein wenig verklärt, seufzten und knabberten dann weiter an ihren Broten. Mimis Kollegin guckte zu ihr herüber.

„Man, so jung möchte ich noch einmal sein, dass ich diesen Scheiß zum ersten Mal höre.“

Während Mimi nickte, stülpte sie die Unterlippe nach vorn. Einen Moment hing sie ihren Gedanken nach, bis sie antwortete: „Ja, noch einmal süße siebzehn, dass wär’s.“

 

Nach nur drei Jahren Ehe hatten sich Mimi und ihr Mann vor zwei Jahren getrennt. Seitdem war sie allein. Keine Affäre, kein One Night Stand - nicht ein Versuch eine neue Beziehung einzugehen.

Sie war gern Single, aber keine militante Single-Frau (scheiß auf die Männer – sind doch alles Schweine). Sie fand Männer gut und jetzt im Frühling würde sie sich viel und gern nach ihnen umdrehen. Sie zweifelte nicht an den Männern. Nur daran, dass Beziehungen im Wirrwarr des Alltags Bestand hatten.

 

Je älter sie wurde, desto mehr hatte sie mädchenhafte Vorstellungen von bedingungsloser Liebe. Sie wollte den Retter in der Not. Den, der, wenn Gefahr drohte, schweigend aus der Dunkelheit trat und sich schützend vor sie stellte. Mimi wollte, dass noch nach Jahren ein Blick von ihm ihr Herz zum Rasen brachte. Sie wollte ihren Seelenverwandten. Leider hatte die Erfahrung gezeigt:

 

DEN GAB ES NICHT!

 

„Mimi? Eh, MIIIMI!! Bist du eingeschlafen? Mittagspause ist vorbei.“

Mimi riss sich von ihren Gedanken an ewige Liebe und Seelenverwandtschaft los und machte sich auf den Weg, noch ein paar hundert Primeln zu packen.

 

Vierzehn Uhr - Feierabend. Mit weit geöffnetem Autofenster fuhr sie ihrem Frühjahrsputz entgegen. Eigentlich war es noch zu kalt, um mit offenem Fenster zu fahren. Weil aber die Luft so gut roch, nahm sie es gern in Kauf zu frieren.

Das Autoradio hatte sie voll aufgedreht. Zusammen mit Bono grölte sie „Beautiful Day“. Der kleine geteerte Feldweg, in den sie nun einbog, war nur für den landwirtschaftlichen Verkehr und Anlieger frei gegeben. Anlieger waren außer Mimis Vermietern und ihr, die Eheleute Schütze und Michi und Andy. Sie alle lebten am Ende dieser Straße. Es gab das Herrenhaus und die Remise. Den Eheleuten Schütze gehörte das ehemalige Gesindehaus und Michi und Andy hatten vor ein paar Jahren die alte Fachwerkscheune zum Wohnhaus umgebaut.

 

Bald würde neben der kleinen Strasse das Gras wieder saftig grün sein. Schwarz weiße Kühe würden sich hier dick und fett fressen. Wenn dann noch die Rapsfelder blühten, war es der perfekte Nachhauseweg.

Schon knirschten die Autoreifen auf der Auffahrt vor dem Herrenhaus. Als Mimi an den Drachen vorbeiradelte, lächelte sie diesen zu, in der Hoffnung sie würden sich bewegen. Dies schien ihr wahrscheinlicher, als dem Retter in der Dunkelheit zu begegnen.

 

Mimi begann ihren Frühjahrsputz im Flur, der eher an eine begehbare Garderobe erinnerte. Zwischen den Winterjacken, Mützen und Schals fand man zwei Türen. Hinter der einen lag das kleine Duschklo. Hinter der anderen das Wohnzimmer mit offener Küche. Im Wohnzimmer war eine Wendeltreppe aus Industriestahl installiert, die in den ausgebauten Spitzboden führte. Die Grundfläche unterm Dach war nicht klein, aber durch die Schrägen war die Stehhöhe sehr eingeschränkt. Auf der einen Giebelseite befand sich der begehbare Kleiderschrank, auf der anderen Seite stand Mimis Bett mit Blick auf das dreieckige Fenster.

 

Um achtzehn Uhr war sie mit dem Frühjahrsputz, Gartenbegehung und Abendessen fertig. Von der Arbeit und den vielen schlechten Nächten war sie total kaputt. Dies ließ Mimi hoffen, heute Nacht gut schlafen zu können. Sie ging früh ins Bett um zu lesen, schaffte aber nicht einmal drei Seiten. Während sie das Licht ausmachte, versank ihr Kopf schwer im Kissen. Im Halbschlaf zog sie die von Mutti selbst gestrickten Angorasocken von den heißen Füssen.

 

Dunkelheit legte sich wohltuend zu ihr. Zufrieden streckte sie sich aus und hatte das Gefühl, ihre Füße würden weiches Gras berühren.